Ich habe mich jahrelang darüber beschwert, dass in vielen westlichen Zivilisationen die Menschen überhaupt kein Gefühl für den Tod entwickeln können. Ich denke mittlerweile, dass wir auch kein Gefühl über die Geburt haben. Viele können sich nicht das Ausmaß an Emotion, Schmerz, Bedarf an Care-Arbeit und emotionaler Fürsorge ausdenken. Was wir sehen sind Vlogs zu Babyshowers, Zimmereinrichtungen und Hautpflege vor und nach der Geburt. Ja und den Tod gibt es so als ganzes gar nicht. Die Menschen machen sich auf ihre „letzte Reise“, „gehen von uns“ und sind immer mit uns. Wir können den Tod und die Geburt nicht mehr in unseren Alltag einbetten. Frauen müssen das Wochenbett selbst durchstehen, wenn sie Glück haben kommt eine Hebamme einige male nach Hause. Ja und zum Sterben geht man in ein Hospiz, in den allermeisten Fällen zumindest.
Im Dorf meiner Eltern, in der Ägäis, konnte man das noch üben. Wenn jemand krank wurde, wenn man allmählich befürchtete, dass dieser Mensch nicht mehr lange hat, dann gab man Bescheid, alle kamen und verabschiedeten sich. Es wurde permanent im Beisein gebetet. Klar, dass diese Personen die Schwelle ins Jenseits auch alleine bewältigen mussten, aber bis zu dieser Schwelle waren die Geliebten dabei. Man konnte sehen, wie vergänglich das Leben und wie kostbar unsere Lebzeit hier ist. Viele Menschen berichten über diese Erfahrung als einprägend oder einschlägig. Es macht was mit einem. Meistens zumindest. Für eine bestimmte Zeit zumindest.
Tod numero eins- die erste Beerdigung

Ich war schon oft auf Friedhöfen. Ich finde sie strahlen eine gewisse Klarheit aus. Insbesondere in Deutschland sind sie manchmal wie ein botanischer Garten. Es ist ruhig, voller Natur und wirkt sehr beruhigend. Als Kind sind wir auf dem Heimweg zur Schule immer an einem Friedhof vorbeigelaufen. Ich kann mich nicht daran erinnern jemals Angst gehabt zu haben. Auch in der Türkei besuchte ich jährlich einen Friedhof. Ich betete für die Verstorbenen und ehrte meine Ahnen. Für Kinder in der Diaspora sind Großeltern dann manchmal auf einmal nicht mehr da. Man bekommt es zwar mit, wie diese erkranken, wie der Zustand sich verschlechtert, dass sie sterben, aber in den allermeisten Fällen reisen dann die Eltern schnell zur Beerdigung und man besucht diesen geliebten Menschen dann beim nächsten Urlaub am Grab. Der kleine Verstand kann das alles gar nicht erfassen, muss aber häufig allein damit klar kommen. So war es zumindest in meinem Fall.
Meine erste Beerdigung, an der ich teilnahm, war 2021. Man muss sich das mal vorstellen. Ich war schon längst über 40, hatte zwei Kinder, konnte mehrere Sprachen sprechen, debattieren – diskutieren… aber ich hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch beerdigt wurde. Es kam hinzu, dass es ein Mensch war, den ich wahnsinnig liebte, schätze und dankbar war für die Bekanntschaft. Es war die Beerdigung von Mehmet Ali Şengül. Er zählt zum engen Freundeskreis von Fethullah Gülen und verstarb am 11.7.21 an Covid. Er wurde auf dem Hanauer Friedhof bestattet.
Ich muss sagen, ich wusste nicht genau was mich erwarten würde. Ich wusste jedoch, dass ich, ja dass wir als Familie ihm diesen letzten Dienst erweisen müssen, möchten und auch dürfen. Ich nahm die Kinder mit. Kommentierte alle Schritte und schaffte Raum zum Trauern. Denn Mehmet Ali Hoca war wie ein Großvater für sie. Dieser feine Mensch schenkte jedem, wirklich jedem Beachtung, war stets freundlich und strahlte eine unermessliche Frömmigkeit aus, auf die ich manchmal ein wenig neidisch war. Nun verstarb dieser Mensch und viele kamen an diesem Tag zu diesem Friedhof. Wir sahen Vorort wie ein Mensch beigesetzt wurde, wie Trauer Menschen vereint, wie würdevoll der Abschied von so geliebten Menschen von dannen gehen kann. Ich weiss nicht ob man das nachvollziehen kann aber man bekam regelrecht die Lust zu sterben- so schön war diese Beerdigung. Die Gebete umhüllten unseren Schmerz wie seidene Tücher. Es waren hunderte da, alle, die ihn liebten und ihn sehr vermissen würden. Wir wussten, dass sein Platz mit nichts zu ersetzen ist. So ist es auch bis heute. Wie gerne hätte ich mich wieder mit ihm ausgetauscht, sein Lächeln auf einen meiner Kommentare oder Fragen auf seinem Gesicht gesehen oder das Baklava, welches er mit anbieten würde, essen. Ich werde ihn bis ans Ende meines Lebens ehren und vermissen….
Tod numero zwei- dem Tod in die Augen sehen

Es kam wie befürchtet- die erste Begegnung mit dem Tod musste ich bei meinem Vater letztes Jahr im November machen. Ich warnte immer davor, dass die Moderne uns keinen Raum schafft, in dem wir uns an anderen Todesfällen üben können. In den allermeisten Fällen werden wir mit dem Tod unserer Eltern mit dem Thema konfrontiert. Schützen konnte ich mich aber selbst vor dieser Warnung nicht. Obwohl ich lange Zeit während der Abiphase und dem Studium im Altenheim arbeitete, immer wieder am nächsten Tag BewohnerInnen nicht mehr im Zimmer vorzufinden waren, da sie über Nacht verstarben, habe ich es dort nie miterlebt.
September letzten Jahres musste mein Vater abrupt seinen Rentnerurlaub in seinem Dorf in der Türkei abbrechen. Man hatte bereits dort im Krankenhaus einen Lebertumor festgestellt. Er kam mit dem ersten Flieger nach Deutschland. Er lief am 24. September ins Krankenhaus und wurde am 24. November mit dem Sarg entlassen. Der Krebs war so aggressiv, dass alle Therapiemaßnahmen nicht einmal mehr durchführbar wurden. Die Ärztin sagte, dass er eigentlich alles richtig gemacht hat. Er hat seit Jahrzehnten nicht mehr geraucht, nicht getrunken, war immer in Bewegung, hat sich gesund ernährt, so sehr, dass er sogar seinen Joghurt selbst machte. Noch im April hatte er alle Vorsorgeuntersuchungen machen lassen. Alles top. Mein Vater war zäh, aber der Tumor war bösartig und zerstörerisch. Man erklärte uns, dass der Krebs nicht in ihm gewachsen, sondern regelrecht explodiert ist.
Ich fuhr in diesen 2 Monaten fünf mal zu meinem Vater. Jedes mal sah ich einen Mann, der unermüdlich kämpfte, nicht aufgab und doch so gefasst war. Kein einziges mal beschwerte er sich über die Schmerzen, die unvorstellbar qualvoll sein mussten. Selbst am Tag vor seinem Tod fragte er die Ärzte, ob eine Transplantation möglich sei. Er versuchte mich zu trösten, als ich in Tränen ausbrach, mit den Worten „das ist mein Schicksal, so ist der Wille Allahs“. Ich sah, wie es ihm bei jedem Besuch schlechter ging.
Ich hatte beruflich viel um die Ohren, es war diese Distanz von 600km zwischen uns, aber dennoch war ich seelisch weder hier noch bei ihm. Mein Mann überredete mich zu meinem Vater zu fahren. Ich erklärte, dass es sicher besser ist, wenn ich die Woche drauf zu ihm fahre. Er erwiderte, dass ich auch nächste Woche nochmal zu ihm fahren könnte, und dass ich das vielleicht später bereuen könnte. Der Satz wurmte mich, also rief ich seine Ärztin in der Klinik an. Diese erklärte mir, dass sein Zustand leider nicht besser wurde aber dass er momentan stabil sei.
Die selbe Ärztin rief mich am nächsten Tag am Spätnachmittag an. Sie kam aus Indien nach Deutschland um hier als Ärztin zu arbeiten. Ihre Familie war in der Heimat und sie war hier allein. Mein Vater hatte ihr von seinen Kindern erzählt, sie in seinen Garten eingeladen, ihr versprochen für sie zu grillen wenn er wieder gesund werde. Die Ärztin sagte zu mir am Telefon, dass sie mir zwar gestern gesagt hatte, dass er stabil sei, aber heute Komplikationen entstanden seien, er innere Blutungen hätte. Der Tumor würde auf Luft- und Speiseröhre drücken, sodass Krampfadern entstanden seien, die angefangen hätten zu bluten. Diese hätte man tackern müssen, um die Blutung zu stoppen. Sie erklärte das sachlich nüchtern, während ich schon seit dem Wort „Komplikationen“ weinte. Sie machte eine kleine Pause und sagte „wenn es mein Vater wäre, würde ich kommen“. Als ich den Hörer auflag konnte ich nur sagen „mein Vater stirbt“. Nach einer halben Stunde sass ich im Zug, um Mitternacht war ich am Bahnhof in Augsburg
Als er aufwachte und mich sah, konnte ich seine Freude in seinen Augen sehen. Er war froh, dass ich es geschafft hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir alle Hoffnung, dass „wir“ die Kurve kriegen. Alles würde, wie durch ein Wunder, wieder gut. Mein Baba würde das mit Gottes Hilfe schaffen. Zuhause war alles auf seine Rückkehr vorbereitet. Ein Pflegebett- Feststellung der Pflegestufe- Pflegedienst… Soviel Arbeit und Zeit, für die Angehörige keine Energie haben. Man macht aber alles, um dem geliebten Menschen alles zu ermöglichen. Das Krankenhaus bot meiner Mutter an, bei meinem Vater zu übernachten. Sie bekamen ein eigenes Zimmer. Das Personal war menschlich und mitfühlend.
Es kam, wie es kommen musste… Wir hatten uns die Schichten mit meiner Mutter geteilt. Sie blieb nachts, ich kam tagsüber. Wir mussten unsere Kräfte einteilen, weil wir nicht wussten, was uns erwartet. Am 23. November sagte ich meiner Mutter, dass ich diese Nacht auch im Krankenhaus verbringen werde. Sie versuchte nicht, mich davon abzubringen. Ich muss es wohl gefühlt haben. Mein Vater fiel am Abend in einen komatösen Schlaf. Ich hatte mich informiert bei seinen Ärzten, was alles passieren könnte, woran man was merken würde, was wir machen sollten. Ich habe die letzten Tage vor dem Tod meines Vaters nicht mehr geweint. Ich hatte alle meine Tränen vorgezogen, zwei Monate durchgeweint. Meine Aufgabe bestand nun darin, meinen Vater bis zur letzten Schwelle begleiten zu dürfen. Am 24. November gegen drei Uhr in der Nacht, weckte ich meine Mutter auf. Ich sagte zu ihr, dass sie ruhig bleiben soll und ihre spirituelle Waschung machen soll. Irgendetwas hatte sich in dem Raum verändert. Ich fühlte es aber konnte es nicht beschreiben. Meine Mutter tat, was ich ihr sagte. Wir stellten uns zu meinem Vater ans Bett. Ich nahm seine rechte Hand, meine Mutter seine linke. Mein Vater konnte zwar seine Augen nicht öffnen oder sprechen aber er hielt unsere Hände. Ich sprach zu meinem Vater, dass er abgeholt wird und er keine Angst haben solle. Er solle mit seinem Atem versuchen mit uns gemeinsam zu beten. Ich fing an laut und repetitiv die Shahadah zu sprechen. Rythmisch- immer und immer wieder. Ich betete innerlich zu Allah, dass er uns nicht mit Erlebnissen prüfe, denen wir nicht gewachsen sind. Immer wieder erzählen Menschen über die letzten Momente von Menschen, über ihr leidvolles Ende oder die Qual. So etwas hätten weder meine Mutter noch ich verkraften können. Und ich weiß nicht, wessen Gebete erhört wurden aber mein Vater starb friedlich und würdevoll. Wir begleiteten ihn zur Schwelle, das Zimmer war losgelöst von Raum und Zeit. In tiefer Erhabenheit danke ich Allah, dass ich meinem Vater diese letzte Ehre erweisen durfte. Ich habe mit jedem Molekül meines irdischen Daseins die Gnade Allahs gefühlt. Seine Seele hätte nicht sanfter abgeholt werden…
Zu der Beerdigung des Mannes, den ich bis zur Schwelle des Todes begleitet hatte, konnte ich nicht. Mein Vater wollte in seinem Dorf bestattet werden. Er wollte nicht, dass wir uns alle 25 Jahre deshalb streiten müssen, wer die Kosten der Weiterführung seines Grabes tragen solle. Er wollte auch nicht, dass sein Grab geschandet werden konnte, nur weil er nicht Mayer oder Müller heisst. So kam es, dass ich seine Beerdigung über FaceTime mitverfolgen sollte, weil politische Ächtung keine Rücksicht auf Pietät und Schmerz hat in der Türkei.
Tod numero drei-wie soll man nun weitermachen?

Der letzte Tod liegt nur zwei Wochen zurück. Am 20 Oktober verließ Fethullah Gülen sein irdisches Dasein. Zehntausende nahmen an der Zeremonie in den USA teil, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In einem Sport Stadium wurde eine Bestattungszeremonie vollzogen, die selbst die Vermieter des Stadiums stutzig machten. Über 20.000 Menschen, alt, jung, männlich, weiblich, türkisch- nicht türkisch, muslimisch- nicht muslimisch… Hocaefendi, wie er von seinen Schülern und AnhängerInnen der Hizmet Bewegung genannt wurde, war nicht nur ein Prediger, sondern ein Gelehrter. Er lehrte weit über die Grenzen der Türkei und der Muslime hinaus.
Ich verfolgte die Zeremonie und die Beisetzung vom Bildschirm, wie viele andere auch. Ich kenne Hocaefendi schon seit meiner Grundschulzeit und habe fast alles von ihm gelesen. Für mich ist er nicht nur ein Prediger. Wenn ich heute an eine Vereinbarkeit von Demokratie und Islam, an die essenzielle Notwendigkeit von Dialog glaube, mich für Frauen- und Minderheitenrechte einsetze, studiert habe und meine Töchter als emanzipierte Frauen erziehe, dann bin ich das Hocaefendi schuldig.
Ich hatte die Ehre, ihm zwei mal persönlich zu begegnen. Beim ersten mal, wollte ich unbedingt, dass unsere Begegnung von all seinen anderen Besuchsempfängen absticht. So habe ich mich kurzerhand nach dem Abschied in seinem Zimmer umgedreht und habe zwischen dem Koran, den ich unter meinem Arm hielt ein kleines Notizheft hervorgezückt und es ihm geschenkt. Es hatte einen Ledereinband und war handgemacht. Das Heft sah aus wie eine kunstvoll verzierte Mosaik Fliese. Während die anderen sich schon auf die Tür hin bewegten, ging ich wieder auf ihn zu und sagte zu ihm „es wäre mir eine große Freude, wenn Sie mein kleines Geschenk als Erinnerung an mich annehmen würden“ und legte es auf den Tisch vor ihn. Er schaute mich verwundert an. Ich drehte mich um und folgte den anderen, die mich etwas gestutzt anschauten. Ich stelle mir noch heute vor, dass er dass Heftchen in der Hand hält, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und wenn wir uns im Jenseits wieder begegnen, werde ich ihm sagen „Hocam, wissen Sie noch, ich bin diejenige, die Ihnen dieses kleine Heftchen als Andenken schenkte, damit Sie mich hier wieder erkennen“.
Sein Tod mit 86 Jahren und vielen Krankheiten war zu erwarten aber dennoch für viele zu früh. Ich glaube es liegt in unserer Natur, dass jeder Tod zu früh kommt. Plausibel, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Seelen für eine Unendlichkeit bestimmt sind. Daher sehnen wir uns immer nach ewigem Leben. Es mag makaber klingen, aber ich bin froh. Er muss nun das Leid dieser Welt nicht mehr ertragen und hat keine Schmerzen mehr. Er ist nun endlich mit allen vereint, die er so vermisst hat. Umso mehr trauere ich um meinen Verlust. Nie mehr habe ich die Möglichkeit ihn zu besuchen oder Fragen zu stellen. Wahnsinnig gerne hätte ich noch seine Meinung zu Entwicklungen von Identitäten und Weltgeschehen gefragt. Es gibt nun nicht mehr die Möglichkeit ein persönliches Gebet einzuholen. Was bleibt sind aber seine Predigten, seine Bücher, seine Lehren und Menschen aus aller Welt, die ihn lieben und ehren… dieses Erbe reicht für mindestens ein Jahrhundert…
Drei Männer, die in meinem Leben eine Bedeutung haben, sind gestorben. Beim ersten nahm ich an der Beerdigung teil. Beim zweiten war ich am Sterbebett. Beim dritten hat ein wichtiger Teil in mir, Abschied von dieser Welt genommen…
Der Tod ist eine schöne Sache, dies ist die Nachricht hinter dem Vorhang… Wäre der Prophet gestorben, wenn er nicht schön wäre?
Necip Fazil Kısakürek
Danke für den berührenden Beitrag.
Möge Gott deinen Trauer erleichtern und uns allen ebenfalls einen derartig sanften Tod ermöglichen und Wohlgefallen mit uns haben.
Ich möchte ihnen mein von Herzen kommendes Mitgefühl aussprechen, ich finde es aber toll, dass sie es geschafft haben sich trotz allem ihr Selbstbewusstsein zu bewahren.