Nach 9 Monaten- Potsdam/Berlin

Volle neun Monate sind bereits vergangen seit wir von Frankfurt am Main nach Potsdam gezogen sind. Zwischen der zweiten und dritten Welle, mitten im Herbst, haben wir quasi in nur wenigen Wochen uns entschieden, alles organisiert und im Sturm sind wir hier eingezogen. Es bedarf wahrlich einer längeren Zeit, um an einem Ort anzukommen als nur die Möbel und Habseligkeiten von einer Wohnung in eine andere zu schaffen. Klar, während einer Pandemie, lang andauernden Isolationen und nicht gewohnten Lebensumständen ist das alles nichts verwerfliches oder gar verwunderliches. Aber dennoch. Erst jetzt fühlt es sich allmählich gut an. Es ist nicht wirklich schon „zu Hause“, dafür ist es einfach noch zu groß und immer noch zu isoliert. Aber, ich möchte nicht undankbar sein und allmählich tut sich was…

Ich arbeite in Berlin, nur zwei-Gehminuten vom Brandenburger Tor entfernt. Ich habe zum ersten mal in meinem Leben am Arbeitsplatz meinen eigenen Schreibtisch. Ich muss sagen mir fiel sofort Virginia Wolf ein, ich habe zwar schon seit Jahren ein Arbeitszimmer zu Hause. Aber irgendwie hatte es seit Jahren im Job nie für einen eigenen Tisch gereicht. Ich hatte zwar kein Problem den Arbeitsplatz zu teilen, aber so einen Tisch für sich zu haben, vom Fenster aus die Oper-Proben zu hören, am Brandenburger Tor einen Kaffee zu trinken hat schon extrem viel Charme… Mein neues Team ist mindestens genauso nett und entgegenkommend wie mein altes. Ich muss sagen, es lässt sich hier sicherlich gut aushalten 🙂 ich arbeite wahnsinnig gerne…

Was aber fehlt sind sicherlich die Freunde und vor allem die alten Nachbarn. Man merkt nach dem Umzug wie tief man bereits verbunden war mit Menschen, wie sehr sie schon Teil von einer Person wurden. Ich habe mir noch sehr lange Sorgen um die Nachbarin gemacht, für die wir während der Pandemie einkaufen gingen, für die Nachbarin, der mein Mann beim Tragen von schweren Blumentöpfen half, dem Nachbarpaar die das beste Beispiel für uns sind, wie man gemeinsam alt werden kann und viele mehr…. Alle sind uns so ans Herz gewachsen…. Alle meine Freundinnen, die für verrückte Sachen, für tiefe und bewegende Diskussionen da waren, mit denen ich soziologische Erkenntnisse teilen konnte. Freunde, die schon seit Jahren Familie geworden sind…. Soviel Heimweh hatte ich schon seit Jahren nicht mehr- Heimweh, was bei mir ja quasi schon obligatorisch/chronisch ist und die Verortung von Heimat so extrem different und hybrid ist… Sehnsucht nach etwas- aber was?

Jetzt haben wir alle pro Person soviel Platz, soviel Wald und See, soviel Natur wie noch nie. Jetzt haben wir neue, spannende Nachbarn. Vor allem einen Nachbarn, der ungemein belesen und wunderbar warmherzig ist 🙂 (er liest ab und an meinen Blog- ansonsten würde ich hier noch Ausführungen anbringen, aber er weiß es sicherlich schon, dass wir von ihm angetan sind 🙂 Es ist definitiv ein Neuanfang, ein neues Kapitel für uns alle.

Ich freue mich wenn ich bei Spaziergängen die wunderschönen farblichen Ausführungen wie zig-verschiedene Blau-, Rosa-, Lila-, Rot- Töne oder die schönen Regenbogen….. Allah sei Dank habe ich bisher noch keine negativen Erfahrungen machen müssen im Sinne von Rassismus, Dämlichkeit oder Unfreundlichkeit. Wir stellen die Exotenquote in der Straße so ziemlich über den Kopf, da wir die offensichtlich einzigen nicht-christlichen und nicht-Biodeutschen im Viertel sind. Aber fünf Minuten später fängt ja schon Berlin an und da ist es wohl genau umgekehrt.

Nach nun neun Monaten, einem neuen Job (Stiftung Dialog und Bildung), zwei Corona-Impfungen möchte ich mutig sein und mich auf das Neue, Gute und Spannende einlassen…. Hallo Potsdam, Hallo Berlin, wir sind da! Ganz wie Mevlana Celaleddin Rumi sagen würde „Jetzt ist es Zeit, neues zu sagen!“….

Synfonie der Vielfalt: Aşure

Heute ist der 10. Muharram im islamischen Kalender. Für gewöhnlich kocht man an diesem Tag eine Süßspeise aus ganz unterschiedlichen Zutaten, die man eigentlich aus anderen Speisen kennt: Asure.

Auch ich zähle zu den großen Fans dieses süssen Puddings, den Noah laut Überlieferung auf der Arche aus  den restlichen Lebensmitteln gekocht haben soll, als alles quasi schon fertig war. Ich bin jedes mal überrascht, wie Weizen, Kichererbsen, Granatapfel und Co. so gut harmonieren können. Viele Köche*Innen bemessen sich gerne an dieser Süßspeise. Nicht jeder kann die Harmonie der Vielfalt im Kochtopf dirigieren. Die Kichererbse gibt gern vorlaute Töne von sich, und der Weizen ist überall. Die Granatapfel Stückchen tun sich gut mit Pistazienkernen, wollen aber nichts vom Sesam wissen. Das hier ist aber kein Solo meine Lieben, alle zusammen, und je vielfältiger desto besser. Keine Angst, es geht keiner unter, alle kommen dran, jeder ist unentbehrlich und bitte bleib so wie du bist!

Ich habe mir vorhin beim Kochen gedacht, ob man den Pegida-Leuten wohl mal davon zu essen geben sollte, dann würde es ihnen sicherlich besser gehen; Sie würden endlich verstehen, es würde ihnen im Kopf ein Licht und im Herzen ein Tor aufgehen. Naja! Eine Idee ist es sicherlich wert.

Die Schwierigkeit der Asure liegt meiner Meinung nach nicht bei der Zubereitung. Der Hacken ist oder war bisher immer das damit zusammenhängende Verteilen. Sinn der ganzen Aktion ist nämlich, dass man diese Speise an Nachbarn und Freunde verteilt! So und jetzt leben wir aber in einem extrem Allergie-lastigem und individualistisch- zurückgezogenen Zeitalter. Mag mein Nachbar überhaupt Asure? Vielleicht sieht es ja aus seiner Perspektive nicht mehr wie eine Sinfonie der Vielfalt aus, sondern eher wie „vorher schon mal gegessen und ausgespuckt“? Diese Hürde habe ich bereits vor Jahren übersprungen. Ich pimpe mein Asure gerne visuell- Deko-technisch gerne mit allen Nüssen und Stücken gerne auf, so dass es im Schälchen „nett“ aussieht. Dann mache ich einfach Klingelputz bei den Nachbarn, erzähle ein bisschen was dazu. Nachbarschaft-Gemeinschaft und kulinarisch sind meine Schlagworte. Dieses Format eignet sich übrigens perfekt, sich neuen Nachbarn vorzustellen. Smalltalk im Treppenhaus mit Asure, dann muss es doch klappen mit der Nachbarschaft. Ich muss sagen, ich hatte bisher immer ganz liebe Nachbarn. Sie freuen sich immer wenn ich etwas vorbeibringe. Ob sie es dann auch essen und mögen, ist nicht die Aufgabe. Sich überwinden und zwischenmenschlich kommunizieren, das ist der springende Punkt.

 

Was ist hier drin?

Ich habe kein Patentrezept aber die Legende besagt, dass man die Zutaten am besten immer am 10. Muharram kauft damit man immer etwas zu essen hat und dass in der Küche stets Fruchtbarkeit (Google übersetzt mir Bereket damit?!) herrscht. Man sollte immer mindestens 7 Zutaten für die Speise bereitstellen.

IMG_8627

Ich habe folgende Zutaten der Grundmasse mit Wasser zu einem Pudding gekocht:

  • Weizen
  • Kichererbsen
  • Reis
  • Zucker
  • Sesam
  • Aprikosen
  • Rosinen
  • Orangenat
  • Feigen
  • Korinthen
  • eine abgeriebene Schale einer Zitrone

alles klein und fein und lange lange kochen. Weizen und Kichererbsen wurden am Abend zuvor in Wasser eingelegt. In der Dekoration ist jeder frei, nach Lust und Laune….Ich habe Granatapfel, Pistazien, Haselnuss, Mandel, Walnüsse und Pinienkerne.

Ich habe das Privileg, das erste Schälchen zu genießen. Danach mache ich mich auf und verteile… Asure kann man nicht einfach so kochen oder essen. Asure muss man leben! In diesem Sinne happy Cuma, happy Asure….

Nachbar-schaf(f)t

Ich nehme mir nun seit zwei Wochen immer wieder vor diesen Text zu bloggen. Entweder kommt privat etwas dazwischen oder die globale mediale Situation ist derart miserabel, dass ich keinen Buchstaben zum anderen zusammen bringen kann. Ich meine in Deutschland braut sich gerade eine braune #Pegida Brühe zusammen, die CSU wünscht sich auch zu Hause nur noch deutsch zu sprechen. In Australien nimmt ein Spinner gleich ein ganzes Geschäft samt Kunden zur Geisel (die Situation eskalierte und 3 Menschen starben), in Pakistan verüben Terroristen einen Anschlag auf eine Schule (viele Kinder starben dabei) und in der Türkei werden Journalisten verhaftet weil sie an ihrer Meinungsfreiheit festhalten. Alles nicht so wirklich das gelbe vom Ei.

Daher nun mal ein Text der ganz und gar positiv ist!

Gute Nachbarschaft macht das Leben lebenswerter. An dieser Theorie verharre ich wirklich sehr stark. Ich finde, die Moderne macht es der Nachbarschaft nicht unbedingt einfach. Die Menschen arbeiten oft viel und lange. Sie müssen oft ihre Wohnorte wechseln. Ebenso verhilft der Drang nach Entspannung und Individualität nicht unbedingt das gesellige Beisammensein von Menschen, die ihre Räumliche Nähe nicht direkt selbst bestimmen dürfen. Wir können uns unsere Nachbarn, wie auch unsere Verwandten, nicht wirklich selbst auswählen. Im Vergleich zu den Verwandten kann man seinen Nachbarn die Nachbarschaft kündigen, in dem man wegzieht.

Nun denn. Mein momentaner Wohnort ist bereits der fünfte, das heisst ich habe bisher in fünf völlig verschiedenen Städten, die in ganz unterschiedlichen Bundesländern sind, gewohnt. Immer wenn ich neu einziehe und mit dem Umzug durch bin, schreibe ich allen Mitbewohnern im Haus eine kleine Karte in der wir uns kurz vorstellen. Auf den letzten beiden stand mit dabei, dass wir in einigen Wochen Nachwuchs erwarten und uns im voraus für eventuellen nächtlichen „Lärm“ entschuldigen. Viele meiner Nachbarn haben im Gegenzug mit einer kleinen Willkommensbotschaft  geantwortet oder die „neuen Nachbarn“ recht freundlich gegrüßt, denn nun wusste man ja mehr über uns. Ich muss sagen, in puncto Nachbarn hatte ich wirklich immer Glück. Es waren immer sehr nette Menschen dabei. An schlechte kann ich mich wirklich nicht erinnern. Klar hat der eine oder andere mal einen schlechten Tag und schaut etwas grimmiger oder grüßt nicht auf Anhieb, aber das ist glaube ich alles noch im menschlich-normalen Rahmen gewesen.

Als wir vor drei Jahren von Heidelberg nach Frankfurt zogen war ich hochschwanger und hatte auch noch ein Kleinkind von knapp drei Jahren. Unser Haus besteht aus sechs Wohnungseinheiten und die meisten wohnen schon seit Jahren hier. Wir sind die ersten und auch die einzigen im Haus mit Migrationshintergrund. Anfangs hatten die Nachbarn nicht wirklich eine Vorstellung, wie und ob das klappen kann, da man ja soviel über „die anderen“ hört. Dennoch hatte keiner von uns Berührungsängste und war auch nicht ganz und gar voreingenommen. Für uns waren unsere Nachbarn nicht DIE DEUTSCHEN und für unsere Nachbarn waren wir nicht DIE MIGRANTEN. Alle bedankten sich für die nette Karte und lobten den Text. Zur Geburt unserer zweiten Tochter kamen alle und gratulierten.

So kam es denn, dass wir immer an diversen Festen uns mit gegenseitigen kleinen Geschenken oder netten Karten eine kleine Freude machen. Die Geburtstage der Kinder, Einschulung, Kita-Beginn oder Nikolaus werden im Haus gemeinsam „gefeiert“. Man trifft sich zum türkischen Tee oder zu weihnachtlichem Stollen, Grund haben wir ja genug um zusammen zu kommen. Man hilft sich aus, achtet auf die Wohnung des anderen, wenn er mal nicht da ist und ist zur Stelle als Nachbar. Ich weiss sehr wohl, dass es, vor allem in Großstädten, nicht selbstverständlich ist, dass man seine Nachbarn alle kennt und so nachbarschaftlich miteinander gut zurecht kommt. Ich zu meinem Teil kann sagen, dass ich mich für meine älteren Nachbarn im Haus ein Stück weit verantwortlich fühle. Wenn ich weiß, dass jemand im Haus krank ist oder trauert, dann möchte ich diesem Menschen sein „Leid“ ein Stück weit abnehmen. Ich freue mich, wenn meine Teller, die ich zuvor mit gekochtem oder gebackenen im Haus verteilt hatte, mit einem großen Lächeln und herzlichem Danke zu mir zurück kommen. Ebenso empfinde ich ein Nachbarschaftstreffen vom gesamten Haus bei meinen deutschen Nachbarn als wirklich besinnliches Zusammenkommen. Es ist machbar und im Grunde genommen wirklich einfach. Es muss nur jemand den ersten Schritt wagen. Seien Sie nicht schüchtern, schreiben Sie doch mal Ihren Nachbarn eine Karte ♥

PS: Dieses Bild stammt aus unserem letzten Nachmittagskaffe im Haus mit allen Nachbarn bei Familie Böning. Es war wirklich ein sehr schöner Nachmittag.