Ich bin seit 1999 an Tinnitus erkrankt und habe zwischenzeitlich drei Hörsturze „überlebt“. Die „Krankheit“ steht leider noch im Anfangsstadium der Forschung so dass Patienten mit den permanenten Beschwerden ohne wirklich gute Behandlungsmöglichkeiten den Erscheinungen ausgeliefert sind. Was ein Ton, im Grunde genommen ein Phantom-Ton alles mit einem Menschen machen kann, wie wertvoll wirklich absolute Ruhe ist, wissen all die Menschen da draußen nicht zu schätzen, so lange sie keinen Tinnitus haben. Ruhe, tja das haben Tinnitus Patienten wohl im schlimmsten Fall nur wenn sie tot sind….
Wir haben nun seit 16 Jahren eine Beziehung Herr Tinnitus und ich. Ich muss gestehen, dass er mir anfangs gar nicht aufgefallen ist. Ich meine er war anscheinend schon in meiner Nähe, ja schon in meinem Leben, ich habe ihn jedoch damals nicht wahrgenommen. Ich hatte mit meinem Abitur so viel um die Ohren, so viel Stress. Ich habe ihm keine Achtung geschenkt. Herr Tinnitus, oder wie ich ihn auch gerne nenne Tintin, ist äußerst geduldig und auch zäh, er bleibt am Ball, hängt sich an seine Sache ran und gibt nicht auf. Als dann nun all der Stress vorüber war, fing ich wieder an meine Umwelt und mich selbst wahrzunehmen. Ja endlich wieder zu leben, normal zu sein. Ich habe mir nur gedacht „was für ein Stress, endlich ist das nun vorbei, nie wieder Abi“. Das ich in meinem Leben noch mehrere „Abis“ zu bewältigen habe, tja sogar „doppelt-Abis“ anstanden, wusste ich zum Glück damals noch nicht.
Eines Tages als mich ins Bett legte und versuchte einzuschlafen, bemerkte ich dieses Geräusch. Ich hatte das Geräusch schon vorher vernommen. Es klang wie ein bohren oder so wie ein Geräusch aus den Heizungen. Die Nachbarn würden doch sicherlich wissen, dass man um die Uhrzeit nicht mehr lärmen darf? Es schienen seltsame Nachbarn zu sein. So konstant und konsequent, fast schon unmenschlich! Als die „Dauerbaustelle“ und das „Fehlfunktionsgepiepse“ nicht mehr aufhörte machte ich mich auf zum Arzt. Denn man hatte mir gesagt, dass es im Haus gar keine neuen Nachbarn gab und außer mir konnte niemand den Ton hören. Beim Arzt angekommen, konnte man mir nach einem Hörtest gleich mehr sagen: Tinnitus. Er heißt Tinnitus, ist alleinstehend, hat eine Mutter die Hörsturz heißt, die ab und zu kommen kann, dann bei jedem Besuch ihre Spuren hinterlässt und er hat ernste Absichten mit mir. Er möchte mein Lebensgefährte werden. Ich erklärte zwar dass ich noch zu jung für eine Beziehung bin, aber die Sache war schon dingfest. Es sollte also so sein. Am Anfang hatte unsere „arrangierte“ oder „aufgezwungene“ Beziehung keine allzu großen Komplikationen. Tintin war tagsüber nicht oft bei mir, oder konnte sich in meinem Alltag allzu gut bemerkbar machen. Abends flüsterte er noch kurze Zeit einige Töne, doch ich war so übermüdet, dass ich nicht lange ihm mein Gehör schenken konnte.
Unseren ersten großen Krach hatten wir dann beim Besuch seiner Mutter. Sie heißt zwar Hörsturz aber sie brachte nicht nur mein Gehör zum Sturz sondern quasi mein komplettes ich. Sie kam, wie ihr Sohn, unangemeldet. Plötzlich stand sie da, in Herrgottsfrühe. Ihre Ankunft erschlug mich, ich konnte nichts mehr hören, kompletter Ausfall, das Ohr, wie als ob man den Stecker rausgezogen hätte. Und alles war so seltsam taub, wie abgestorben. So fühlten sich also abgestorbene Körperteile an. Alle Töne in der Umwelt kamen mit Zeitverschiebung an. Ich musste ständig auf die Lippen der Menschen schauen, permanent nachfragen was sie gesagt haben. Das war anstrengend und reizte mich, ich wurde aggressiv. So konnte wohl Folter aussehen. Sie ging, wie ja am Anfang bereits angekündigt. Ich musste mit Kortison Infusionen wieder repariert werden. Bleibende Schäden traten auch ein, wie erwartet. Danach hielt ich auch Distanz zu Tintin… Wenn man so eine Mutter hat, konnte das nichts gutes heißen. Er war aber immer noch da, schien auch unbeirrt an der Beziehung zu halten und zu bauen. Es war ihm ja eigentlich egal wie stark ich mich dazu verbunden fühlte, ob ich ihn wollte oder mochte. Er hatte sich mich ausgesucht, ich hatte ihm die Gelegenheit gegeben in mein Leben einzutreten….
Nun sind es ganze 16 Jahre. In der Zwischenzeit ist er wesentlich lauter geworden, der unscheinbare Tintin. Hat nun ganz andere Töne drauf unser Guter. Sein Mutter war seit langem nicht da, sie soll auch nicht mehr kommen. Hassen ist zwar ein ganz extremes Gefühl, aber ich hasse sie wirklich. Sie lähmt mich. Er stört wirklich permanent, sooft er kann. Ich glaube, er hat Gefallen daran gefunden. Ich wache Nachts durch seine penetrante Störung auf, kann mich kaum mehr erholen… Ich muss ständig im Hintergrund einen gewissen Geräuschpegel haben damit er mir nicht auf die Nerven gehen kann, sogar Nachts. Ich habe ihm gesagt „Entweder hältst du nun endlich die Schnauze oder wir trennen uns!“. Mal schauen wer hartnäckiger ist, Tinnitus oder ich….
Ich widme diesen Text allen Tinnitus Patienten die oft genug an den Rand des Wahnsinns getrieben werden. Nicht umsonst soll es in den Gefängnissen China’s eine ganz extreme Folter Methode gegeben haben; man hat dem Häftling die Haare rasiert und ihn angebunden um ihm dann permanent einen Tropfen Wasser auf den Kopf tropfen zu lassen. Nach einigen Tagen seien die Häftlinge verrückt geworden sein. In diesem Sinne, lasst euch nicht verrückt machen.
Fotoquelle: http://www.hoerzentrum-hannover.de/index.php?id=102