Sen gideli 2 yil oldu… Heute sind es 2 jahre…

Heute ist der zweite Todestag meines Vaters. Zwei Jahre scheinen im Grunde genommen eine feste Konstante zu sein. Sofern es sich nicht um ein Schaltjahr handelt, gibt es in zwei Jahren 730 Tage, 17.520 Stunden, 1.051.200 Minuten, 63.072.000 Sekunden. Irgendwie recht viel. Allerdings fließt Zeit manchmal eben anders… Die letzten zwei Jahre waren zäh und langsam und intensiv und unabgeschlossen.

Du bist vor zwei Jahren mit einem letzten Atemzug, voller Ruhe und Würde aus deinem irdischen Körper gegangen. Ich sage bewusst nicht „von uns gegangen“, denn du bist seit zwei Jahren immer noch da. 67 ist heute eigentlich kein Alter zum Sterben. Aber manch ein Mensch muss eben viel früher gehen, wer kann sich dem schon widersetzen? Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Manchmal kürzer, manchmal länger…

Auch wenn die Erinnerung noch schmerzt und traurig macht, so ist der Sinn und der Inhalt dieser nicht immer mit Trauer behaftet. Mal ist es eine Tierdokumentation (du liebtest diese Dokumentationen), mal ist es ein simples Bulgur Pilavu Menü (dein Lieblingsessen war Bulgur Pilavu mit Huhn und Kichererbsen, welches du genüsslich mit Pfeffer garniertest), mal eine politische Debatte bei der du dich sicherlich fürchterlich aufgeregt hättest. Weisst du, dass ich seit zwei Jahren manche Baumarten ganz anders betrachte, weil du diese so mochtest? Immer wenn ich Joghurt mache, Feigen esse, die Flasche Olivenöl in die Hand nehme bin ich kurz mit dir. Oft bist du in diesen kleinen und ganz alltäglichen Momenten bei mir…

In diesen kurzen und doch so langen zwei Jahren habe ich gesehen, wie vielfältig ein Mensch sein kann. Jeder von uns hat etwas anderes von dir in Erinnerung, jeder geht anders mit Trauer um, jeder trägt das Andenken anders im Herzen. Ich möchte mich an dein großes Lächeln erinnern, dich so im Herzen tragen. Deine Mundwinkel weiten sich, die Lachfalten an den Augen vertiefen sich, so weit, dass die Augen kleiner werden. Die großen Zähne sind zu sehen, ganz ungeniert davon, dass es eben damals keine Zahnspange gab und manch ein Zahn seine Autonomie deklariert hat und in die gewünschte Richtung voranschritt. Bei Alice im Wunderland gibt es doch die Grinsekatze, die kommt und geht, und lediglich ihr Grinsen bleibt. Deine schelmischen Spässe, die du so gerne getrieben hast und damit der Liebling all deiner EnkelInnen warst. Das ist das Lächeln, das bei mir von dir bleibt. Das ist das Lächeln, das ich von dir in mir trage…

Es werden noch viele zwei Jahre vergehen. Jedes mal werde ich mich darüber wundern wieviel Zeit vergangen ist und wie frisch dein Abschied doch ist. Vielleicht kann ich aber auch einfach nicht weiter in der Trauer, denn mein Besuch an deinem Grab, in deinem Dorf bleibt mir verwehrt. Die einzige Gewissheit gibt uns Halt und Frieden- eines Tages werden wir uns wieder sehen…

إِنَّا لِلَّٰهِ وَإِنَّا إِلَيْهِ رَاجِعُونَ

İnnâ lillâhi ve innâ ileyhi raciun

von ihm kommen wir und zu ihm kehren wir zurück

Ein Pool im Garten und geröstete Zwiebeln

Das menschliche Gehirn ist schon faszinierend. Neulich koche ich so nichtsahnend vor mich hin, schwenke Zwiebeln in Olivenöl. Daneben steht schon das Tomatenmark und eine Zitrone bereit. Meine Mutter hat Okraschoten aus der Türkei gebracht. Also etwas ganz besonderes, was man hier nicht überall finden kann. Ich bin diesmal mit Wehmut und Dankbarkeit am Herd. Als die Zwiebeln sich dann auf dieses heiße Öl einlassen, strömt ein Duft mit dem Dampf empor. Sie verändern ihre Konsistenz, erleben eine Transformation. Eigentlich könnte man sagen- sie gehen drauf! Aber nein! Das sind Zwiebeln, die haben noch einen Plan B. Sie machen das beste draus. Sie machen ein Make-over und sind dann schön gebräunt, wie aus dem Urlaub kommend, schmecken süsslich, sind soft und lieblich.

Zack! Da setzt dann auch gleich mein Gehirn ein und lässt gleich eine Core-Memory aufpoppen. „Weisst du noch?“ fragt es mich, obwohl es ja besser als ich weiss, was ich ich noch im Gedächtnis habe und was ich losgeworden bin. „Weisst du noch, wann du das allererste mal geröstete Zwiebeln gegessen hast?“ Und dann läuft ein Film vor meinem geistigen Auge, einer aus Urzeiten eigentlich…

Ich bin höchstwahrscheinlich noch im Kindergarten, also gefühlt vor 100 Jahren. Es ist Sommer und wir sind eingeladen. Obwohl ich noch klein bin merke ich, dass mein Vater sichtlich zufrieden und aufgeregt ist über die Einladung. Meine Mutter ist auch aufgeregt allerdings kommt ihre Aufregung eher von der Ecke Bedenken und Sorge. Ob die Kinder anständig bleiben, was bringt man als Gastgeschenk mit, worüber redet man denn bei so einer Einladung, Fragen über Fragen… Mein Vater arbeitet damals in der Metall Fabrik Eberle in Augsburg. Er ist jung, etwa Mitte 30, spricht deutsch- autodidaktisch gelernt und ist motiviert. Er sticht in der Fabrik mit seinem Lerneifer und seinem Idealismus hervor. Er versteht sich mit seinem Schichtführer gut, könnte natürlich auch daran liegen, dass er einer der wenigen ist, die überhaupt eine Kommunikation eingehen können. Denn die wenigsten sprechen deutsch und türkisch. Der Schichtführer möchte sich wohl erkenntlich zeigen und lädt meinen Vater und seine Familie zu sich nach Hause ein. Diese Geste ist sicherlich nicht alltäglich und auch nicht selbstverständlich. Das weiß mein Vater auch damals schon und nimmt dankend an und ist erfreut über diese Einladung. Meine Mutter ist noch zögerlich, aber damals, Anfang 30, Hausfrau mit zwei kleinen Kindern, folgt sie der Entscheidung meines Vaters, diese Einladung anzunehmen.

Ich kann mich noch erinnern, dass wir uns alle aufbrezelten, als wir an diesem Sommertag diese Familie besuchten. Sie wohnten außerhalb von Augsburg, im Landkreis. Wir parkten und liefen durch ein Tor über den Gartenweg hinein. Mein Gedächtnis zeigt mir einen Garten am Haus. Links befindet sich ein Pool. Zum ersten mal sehe ich einen Pool im Garten. Ich kenne zu diesem Zeitpunk Flüsse, Bäche, Seen und das Meer aber einen Pool habe ich noch nie gesehen. Das Wasser ist ganz türkis. Rechts vom Pool hat die Frau des Schichtführers einen Tisch gedeckt. Tischdecke und Porzellangeschirr, alles ganz fein. Das Paar, das schon viel älter ist als meine Eltern, vielleicht im Alter meiner Großeltern, begrüßt und empfängt uns herzlich.

Das Ambiente vervielfacht die Anspannung meiner Mutter. Mit Mimik und Gestik kommuniziert sie mir und meinem Bruder mit:“ Vorsicht jetzt! Wenn ihr hier jetzt was anstellt, gibt es später zu Hause mächtig Ärger!“ Wir haben beide die Message erhalten und sitzen auf den Gartenstühlen am Tisch wie zwei Porzellanpüppchen. Naja ok, vielleicht etwas zappelnde Püppchen. Über die Unterhaltungen und weiteres spuckt mir mein Gedächtnis nichts heraus. Auch an die Gesichter der GastgeberInnen poppt keine Information auf. Ich bin mit der Umgebung beschäftigt.

Das nächste, was sich in mein Gedächtnis brennt, ist das Essen was folgt. Die Frau hat Spätzle mit gerösteten Zwiebeln gekocht. Und obwohl ich das vorher nicht gegessen habe, fühlt es sich vertraut und heimelig an. Mein Bruder und ich gehen zwar schon in den Kindergarten aber zur Pause essen alle Kinder immer das, was sie mitbringen. Die Möglichkeit, dass ich das also zuvor schon gegessen habe, besteht gar nicht. Ich erinnere mich, dass die Frau mit meiner Mutter kurz rein ins Haus geht, weil sie vor dem Servieren noch die Zwiebeln röstet. Damals gab es höchstwahrscheinlich noch nicht die Fertigpackung. Sie hat einfach Zwiebeln in der Pfanne karamellisiert und mit Butter geröstet. Als sie damit an den Tisch kommt, strömt ein Duft in unsere Nasen. Es ist nun keinesfalls so, dass die türkische Küche Zwiebeln fremd sind, aber in der Form habe ich das einfach noch nicht gegessen und in Kombination mit den selbst gemachten Spätzle, ist das so ein extrem gutes Essen, dass es sich in mein Gehirn einbrennt.

Die Kombination von Pool und gerösteten Zwiebeln ist für mich so einzigartig, dass abgesehen davon, dass wir zum ersten mal als Familie zu einer deutschen Familie eingeladen wurden, alles übertrifft. Es war nicht so, dass wir keine deutschen Gäste hatten, oder wir zu deutschen Kindern eingeladen wurden und auch diese zu uns kamen. Aber diese Einladung war fast wie bei dem Wiener Opernball, bei dem junge Menschen in die Gesellschaft eingegliedert wurden, in dem sie dort ihren ersten Tanz antraten. Das erste mal ist eben etwas ganz besonderes, egal wie oft man dann später noch tanzt.

Wenn ich heut so zurückblicke, ist das vor 1985 ein extrem galanter Zug des Dialogs. Mutig, dass meine Eltern dieser Einladung gefolgt sind und herzlich, dass der Schichtführer eine türkische Gastarbeiterfamilie zu sich nach Hause, in seinen Garten mit Pool zu Spätzle und gerösteten Zwiebeln eingeladen hat. Wenn Leute heute über Integration reden und denken sie stellen etwas extrem innovatives vor, denke ich mir „wir befanden uns bereits auf dem Rückweg diesen Pfades, da wart ihr noch nicht mal aufgebrochen!“ (aus dem türkischen „siz gelirken biz dönmekteydik“) Auch denke ich oft über die Zwiebel nach, die immer so klein geredet wird, alle sich denken „oh das riecht jetzt sicherlich“ dabei hat die kleine so viel Power in sich und verdient definitiv eine ganz andere Würdigung. Also ein hoch an alle Rezepte mit Zwiebeln und jene, die ihre Zwiebelspeisen mit anderen teilen….

Drei Männer die starben und was das mit mir machte…

Ich habe mich jahrelang darüber beschwert, dass in vielen westlichen Zivilisationen die Menschen überhaupt kein Gefühl für den Tod entwickeln können. Ich denke mittlerweile, dass wir auch kein Gefühl über die Geburt haben. Viele können sich nicht das Ausmaß an Emotion, Schmerz, Bedarf an Care-Arbeit und emotionaler Fürsorge ausdenken. Was wir sehen sind Vlogs zu Babyshowers, Zimmereinrichtungen und Hautpflege vor und nach der Geburt. Ja und den Tod gibt es so als ganzes gar nicht. Die Menschen machen sich auf ihre „letzte Reise“, „gehen von uns“ und sind immer mit uns. Wir können den Tod und die Geburt nicht mehr in unseren Alltag einbetten. Frauen müssen das Wochenbett selbst durchstehen, wenn sie Glück haben kommt eine Hebamme einige male nach Hause. Ja und zum Sterben geht man in ein Hospiz, in den allermeisten Fällen zumindest.

Im Dorf meiner Eltern, in der Ägäis, konnte man das noch üben. Wenn jemand krank wurde, wenn man allmählich befürchtete, dass dieser Mensch nicht mehr lange hat, dann gab man Bescheid, alle kamen und verabschiedeten sich. Es wurde permanent im Beisein gebetet. Klar, dass diese Personen die Schwelle ins Jenseits auch alleine bewältigen mussten, aber bis zu dieser Schwelle waren die Geliebten dabei. Man konnte sehen, wie vergänglich das Leben und wie kostbar unsere Lebzeit hier ist. Viele Menschen berichten über diese Erfahrung als einprägend oder einschlägig. Es macht was mit einem. Meistens zumindest. Für eine bestimmte Zeit zumindest.

Tod numero eins- die erste Beerdigung

Mehmet Ali Şengül

Ich war schon oft auf Friedhöfen. Ich finde sie strahlen eine gewisse Klarheit aus. Insbesondere in Deutschland sind sie manchmal wie ein botanischer Garten. Es ist ruhig, voller Natur und wirkt sehr beruhigend. Als Kind sind wir auf dem Heimweg zur Schule immer an einem Friedhof vorbeigelaufen. Ich kann mich nicht daran erinnern jemals Angst gehabt zu haben. Auch in der Türkei besuchte ich jährlich einen Friedhof. Ich betete für die Verstorbenen und ehrte meine Ahnen. Für Kinder in der Diaspora sind Großeltern dann manchmal auf einmal nicht mehr da. Man bekommt es zwar mit, wie diese erkranken, wie der Zustand sich verschlechtert, dass sie sterben, aber in den allermeisten Fällen reisen dann die Eltern schnell zur Beerdigung und man besucht diesen geliebten Menschen dann beim nächsten Urlaub am Grab. Der kleine Verstand kann das alles gar nicht erfassen, muss aber häufig allein damit klar kommen. So war es zumindest in meinem Fall.

Meine erste Beerdigung, an der ich teilnahm, war 2021. Man muss sich das mal vorstellen. Ich war schon längst über 40, hatte zwei Kinder, konnte mehrere Sprachen sprechen, debattieren – diskutieren… aber ich hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch beerdigt wurde. Es kam hinzu, dass es ein Mensch war, den ich wahnsinnig liebte, schätze und dankbar war für die Bekanntschaft. Es war die Beerdigung von Mehmet Ali Şengül. Er zählt zum engen Freundeskreis von Fethullah Gülen und verstarb am 11.7.21 an Covid. Er wurde auf dem Hanauer Friedhof bestattet.

Ich muss sagen, ich wusste nicht genau was mich erwarten würde. Ich wusste jedoch, dass ich, ja dass wir als Familie ihm diesen letzten Dienst erweisen müssen, möchten und auch dürfen. Ich nahm die Kinder mit. Kommentierte alle Schritte und schaffte Raum zum Trauern. Denn Mehmet Ali Hoca war wie ein Großvater für sie. Dieser feine Mensch schenkte jedem, wirklich jedem Beachtung, war stets freundlich und strahlte eine unermessliche Frömmigkeit aus, auf die ich manchmal ein wenig neidisch war. Nun verstarb dieser Mensch und viele kamen an diesem Tag zu diesem Friedhof. Wir sahen Vorort wie ein Mensch beigesetzt wurde, wie Trauer Menschen vereint, wie würdevoll der Abschied von so geliebten Menschen von dannen gehen kann. Ich weiss nicht ob man das nachvollziehen kann aber man bekam regelrecht die Lust zu sterben- so schön war diese Beerdigung. Die Gebete umhüllten unseren Schmerz wie seidene Tücher. Es waren hunderte da, alle, die ihn liebten und ihn sehr vermissen würden. Wir wussten, dass sein Platz mit nichts zu ersetzen ist. So ist es auch bis heute. Wie gerne hätte ich mich wieder mit ihm ausgetauscht, sein Lächeln auf einen meiner Kommentare oder Fragen auf seinem Gesicht gesehen oder das Baklava, welches er mit anbieten würde, essen. Ich werde ihn bis ans Ende meines Lebens ehren und vermissen….

Tod numero zwei- dem Tod in die Augen sehen

Babam ❤️‍🩹

Es kam wie befürchtet- die erste Begegnung mit dem Tod musste ich bei meinem Vater letztes Jahr im November machen. Ich warnte immer davor, dass die Moderne uns keinen Raum schafft, in dem wir uns an anderen Todesfällen üben können. In den allermeisten Fällen werden wir mit dem Tod unserer Eltern mit dem Thema konfrontiert. Schützen konnte ich mich aber selbst vor dieser Warnung nicht. Obwohl ich lange Zeit während der Abiphase und dem Studium im Altenheim arbeitete, immer wieder am nächsten Tag BewohnerInnen nicht mehr im Zimmer vorzufinden waren, da sie über Nacht verstarben, habe ich es dort nie miterlebt.

September letzten Jahres musste mein Vater abrupt seinen Rentnerurlaub in seinem Dorf in der Türkei abbrechen. Man hatte bereits dort im Krankenhaus einen Lebertumor festgestellt. Er kam mit dem ersten Flieger nach Deutschland. Er lief am 24. September ins Krankenhaus und wurde am 24. November mit dem Sarg entlassen. Der Krebs war so aggressiv, dass alle Therapiemaßnahmen nicht einmal mehr durchführbar wurden. Die Ärztin sagte, dass er eigentlich alles richtig gemacht hat. Er hat seit Jahrzehnten nicht mehr geraucht, nicht getrunken, war immer in Bewegung, hat sich gesund ernährt, so sehr, dass er sogar seinen Joghurt selbst machte. Noch im April hatte er alle Vorsorgeuntersuchungen machen lassen. Alles top. Mein Vater war zäh, aber der Tumor war bösartig und zerstörerisch. Man erklärte uns, dass der Krebs nicht in ihm gewachsen, sondern regelrecht explodiert ist.

Ich fuhr in diesen 2 Monaten fünf mal zu meinem Vater. Jedes mal sah ich einen Mann, der unermüdlich kämpfte, nicht aufgab und doch so gefasst war. Kein einziges mal beschwerte er sich über die Schmerzen, die unvorstellbar qualvoll sein mussten. Selbst am Tag vor seinem Tod fragte er die Ärzte, ob eine Transplantation möglich sei. Er versuchte mich zu trösten, als ich in Tränen ausbrach, mit den Worten „das ist mein Schicksal, so ist der Wille Allahs“. Ich sah, wie es ihm bei jedem Besuch schlechter ging.

Ich hatte beruflich viel um die Ohren, es war diese Distanz von 600km zwischen uns, aber dennoch war ich seelisch weder hier noch bei ihm. Mein Mann überredete mich zu meinem Vater zu fahren. Ich erklärte, dass es sicher besser ist, wenn ich die Woche drauf zu ihm fahre. Er erwiderte, dass ich auch nächste Woche nochmal zu ihm fahren könnte, und dass ich das vielleicht später bereuen könnte. Der Satz wurmte mich, also rief ich seine Ärztin in der Klinik an. Diese erklärte mir, dass sein Zustand leider nicht besser wurde aber dass er momentan stabil sei.

Die selbe Ärztin rief mich am nächsten Tag am Spätnachmittag an. Sie kam aus Indien nach Deutschland um hier als Ärztin zu arbeiten. Ihre Familie war in der Heimat und sie war hier allein. Mein Vater hatte ihr von seinen Kindern erzählt, sie in seinen Garten eingeladen, ihr versprochen für sie zu grillen wenn er wieder gesund werde. Die Ärztin sagte zu mir am Telefon, dass sie mir zwar gestern gesagt hatte, dass er stabil sei, aber heute Komplikationen entstanden seien, er innere Blutungen hätte. Der Tumor würde auf Luft- und Speiseröhre drücken, sodass Krampfadern entstanden seien, die angefangen hätten zu bluten. Diese hätte man tackern müssen, um die Blutung zu stoppen. Sie erklärte das sachlich nüchtern, während ich schon seit dem Wort „Komplikationen“ weinte. Sie machte eine kleine Pause und sagte „wenn es mein Vater wäre, würde ich kommen“. Als ich den Hörer auflag konnte ich nur sagen „mein Vater stirbt“. Nach einer halben Stunde sass ich im Zug, um Mitternacht war ich am Bahnhof in Augsburg

Als er aufwachte und mich sah, konnte ich seine Freude in seinen Augen sehen. Er war froh, dass ich es geschafft hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir alle Hoffnung, dass „wir“ die Kurve kriegen. Alles würde, wie durch ein Wunder, wieder gut. Mein Baba würde das mit Gottes Hilfe schaffen. Zuhause war alles auf seine Rückkehr vorbereitet. Ein Pflegebett- Feststellung der Pflegestufe- Pflegedienst… Soviel Arbeit und Zeit, für die Angehörige keine Energie haben. Man macht aber alles, um dem geliebten Menschen alles zu ermöglichen. Das Krankenhaus bot meiner Mutter an, bei meinem Vater zu übernachten. Sie bekamen ein eigenes Zimmer. Das Personal war menschlich und mitfühlend.

Es kam, wie es kommen musste… Wir hatten uns die Schichten mit meiner Mutter geteilt. Sie blieb nachts, ich kam tagsüber. Wir mussten unsere Kräfte einteilen, weil wir nicht wussten, was uns erwartet. Am 23. November sagte ich meiner Mutter, dass ich diese Nacht auch im Krankenhaus verbringen werde. Sie versuchte nicht, mich davon abzubringen. Ich muss es wohl gefühlt haben. Mein Vater fiel am Abend in einen komatösen Schlaf. Ich hatte mich informiert bei seinen Ärzten, was alles passieren könnte, woran man was merken würde, was wir machen sollten. Ich habe die letzten Tage vor dem Tod meines Vaters nicht mehr geweint. Ich hatte alle meine Tränen vorgezogen, zwei Monate durchgeweint. Meine Aufgabe bestand nun darin, meinen Vater bis zur letzten Schwelle begleiten zu dürfen. Am 24. November gegen drei Uhr in der Nacht, weckte ich meine Mutter auf. Ich sagte zu ihr, dass sie ruhig bleiben soll und ihre spirituelle Waschung machen soll. Irgendetwas hatte sich in dem Raum verändert. Ich fühlte es aber konnte es nicht beschreiben. Meine Mutter tat, was ich ihr sagte. Wir stellten uns zu meinem Vater ans Bett. Ich nahm seine rechte Hand, meine Mutter seine linke. Mein Vater konnte zwar seine Augen nicht öffnen oder sprechen aber er hielt unsere Hände. Ich sprach zu meinem Vater, dass er abgeholt wird und er keine Angst haben solle. Er solle mit seinem Atem versuchen mit uns gemeinsam zu beten. Ich fing an laut und repetitiv die Shahadah zu sprechen. Rythmisch- immer und immer wieder. Ich betete innerlich zu Allah, dass er uns nicht mit Erlebnissen prüfe, denen wir nicht gewachsen sind. Immer wieder erzählen Menschen über die letzten Momente von Menschen, über ihr leidvolles Ende oder die Qual. So etwas hätten weder meine Mutter noch ich verkraften können. Und ich weiß nicht, wessen Gebete erhört wurden aber mein Vater starb friedlich und würdevoll. Wir begleiteten ihn zur Schwelle, das Zimmer war losgelöst von Raum und Zeit. In tiefer Erhabenheit danke ich Allah, dass ich meinem Vater diese letzte Ehre erweisen durfte. Ich habe mit jedem Molekül meines irdischen Daseins die Gnade Allahs gefühlt. Seine Seele hätte nicht sanfter abgeholt werden…

Zu der Beerdigung des Mannes, den ich bis zur Schwelle des Todes begleitet hatte, konnte ich nicht. Mein Vater wollte in seinem Dorf bestattet werden. Er wollte nicht, dass wir uns alle 25 Jahre deshalb streiten müssen, wer die Kosten der Weiterführung seines Grabes tragen solle. Er wollte auch nicht, dass sein Grab geschandet werden konnte, nur weil er nicht Mayer oder Müller heisst. So kam es, dass ich seine Beerdigung über FaceTime mitverfolgen sollte, weil politische Ächtung keine Rücksicht auf Pietät und Schmerz hat in der Türkei.

Tod numero drei-wie soll man nun weitermachen?

Fethullah Gülen Hoacaefendi

Der letzte Tod liegt nur zwei Wochen zurück. Am 20 Oktober verließ Fethullah Gülen sein irdisches Dasein. Zehntausende nahmen an der Zeremonie in den USA teil, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In einem Sport Stadium wurde eine Bestattungszeremonie vollzogen, die selbst die Vermieter des Stadiums stutzig machten. Über 20.000 Menschen, alt, jung, männlich, weiblich, türkisch- nicht türkisch, muslimisch- nicht muslimisch… Hocaefendi, wie er von seinen Schülern und AnhängerInnen der Hizmet Bewegung genannt wurde, war nicht nur ein Prediger, sondern ein Gelehrter. Er lehrte weit über die Grenzen der Türkei und der Muslime hinaus.

Ich verfolgte die Zeremonie und die Beisetzung vom Bildschirm, wie viele andere auch. Ich kenne Hocaefendi schon seit meiner Grundschulzeit und habe fast alles von ihm gelesen. Für mich ist er nicht nur ein Prediger. Wenn ich heute an eine Vereinbarkeit von Demokratie und Islam, an die essenzielle Notwendigkeit von Dialog glaube, mich für Frauen- und Minderheitenrechte einsetze, studiert habe und meine Töchter als emanzipierte Frauen erziehe, dann bin ich das Hocaefendi schuldig.

Ich hatte die Ehre, ihm zwei mal persönlich zu begegnen. Beim ersten mal, wollte ich unbedingt, dass unsere Begegnung von all seinen anderen Besuchsempfängen absticht. So habe ich mich kurzerhand nach dem Abschied in seinem Zimmer umgedreht und habe zwischen dem Koran, den ich unter meinem Arm hielt ein kleines Notizheft hervorgezückt und es ihm geschenkt. Es hatte einen Ledereinband und war handgemacht. Das Heft sah aus wie eine kunstvoll verzierte Mosaik Fliese. Während die anderen sich schon auf die Tür hin bewegten, ging ich wieder auf ihn zu und sagte zu ihm „es wäre mir eine große Freude, wenn Sie mein kleines Geschenk als Erinnerung an mich annehmen würden“ und legte es auf den Tisch vor ihn. Er schaute mich verwundert an. Ich drehte mich um und folgte den anderen, die mich etwas gestutzt anschauten. Ich stelle mir noch heute vor, dass er dass Heftchen in der Hand hält, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und wenn wir uns im Jenseits wieder begegnen, werde ich ihm sagen „Hocam, wissen Sie noch, ich bin diejenige, die Ihnen dieses kleine Heftchen als Andenken schenkte, damit Sie mich hier wieder erkennen“.

Sein Tod mit 86 Jahren und vielen Krankheiten war zu erwarten aber dennoch für viele zu früh. Ich glaube es liegt in unserer Natur, dass jeder Tod zu früh kommt. Plausibel, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Seelen für eine Unendlichkeit bestimmt sind. Daher sehnen wir uns immer nach ewigem Leben. Es mag makaber klingen, aber ich bin froh. Er muss nun das Leid dieser Welt nicht mehr ertragen und hat keine Schmerzen mehr. Er ist nun endlich mit allen vereint, die er so vermisst hat. Umso mehr trauere ich um meinen Verlust. Nie mehr habe ich die Möglichkeit ihn zu besuchen oder Fragen zu stellen. Wahnsinnig gerne hätte ich noch seine Meinung zu Entwicklungen von Identitäten und Weltgeschehen gefragt. Es gibt nun nicht mehr die Möglichkeit ein persönliches Gebet einzuholen. Was bleibt sind aber seine Predigten, seine Bücher, seine Lehren und Menschen aus aller Welt, die ihn lieben und ehren… dieses Erbe reicht für mindestens ein Jahrhundert…

Drei Männer, die in meinem Leben eine Bedeutung haben, sind gestorben. Beim ersten nahm ich an der Beerdigung teil. Beim zweiten war ich am Sterbebett. Beim dritten hat ein wichtiger Teil in mir, Abschied von dieser Welt genommen…

Der Tod ist eine schöne Sache, dies ist die Nachricht hinter dem Vorhang… Wäre der Prophet gestorben, wenn er nicht schön wäre?

Necip Fazil Kısakürek

Vom Gastarbeiterkind zur Frau Doktorin

Das ist meine kleine Schwester Fatma. Ich kann mich noch wie gestern an den Tag im Juni 85 erinnern, als meine Eltern mit einer kleinen hellblauen Babytrage in die Wohnung kamen, diese vor das Fenster auf den Stuhl stellten und sagten „das ist eure kleine Schwester Fatma!“ Im Vergleich zu meinem Bruder war ich ich mächtig glücklich, denn ich wurde bereits mit seiner Nachfolge vom Thron geschubst, also litt ich nicht mehr wenn jüngere dazukamen. Aber das entscheidende Detail lag darin, dass ich nun eine Verbündete hatte. Ihn hatte ich auch lieb, aber eine Schwester hatte ich noch nicht- das war jetzt neu! Trotz sechs Jahren Altersunterschieds blieb diese innige Liebe. Klar haben wir auch gezankt, waren vom Wesen her unterschiedlich, haben es manchmal nicht ausgehalten ein Zimmer teilen zu müssen. Aber trotz Krisen und Tiefen überwiegen die Höhen und die Verbundenheit. Blut ist manchmal wirklich dicker als Blut!

Diese junge Frau hat gestern ihre Dissertation mit Bravur verteidigt! Sicherlich ist das nicht zwangsläufig ein Weltereignis und wahrscheinlich haben gestern neben meiner Schwester noch viele weitere Menschen diesen akademischen Grad erlangt. Allerdings ist gerade ihre Promotion für mich, meine Familie und viele weitere unseresgleichen ein so großer Schritt. Als wir uns gestern mit ihr unterhielten, in gemeinsamer Freude, sagte sie: wer hätte das gedacht! Wo doch immer in den Zeugnissen der Grundschule stand „Fatma ist verträumt- Schwierigkeiten dem Unterrichtsgeschehen konzentriert zu folgen- sprachlich ausbaufähig- eventuell wäre eine Ausbildung die bessere Alternative“ usw. usw. Wo stehen wir Jahre später? Am Summa cum laude! Sie hat einfach das System gesprengt. Laut Herkunft und selektivem Schulsystem sollte sie nicht studieren. „Wir brauchen auch Menschen, die eine Ausbildung abschließen, sie könnte doch Friseuse oder Arzthelferin werden“ lauten dann die Vorschläge im Beratungsgespräch in der Schule. Im Deutschunterricht klappt es auf brechen und biegen nicht, den Migrationshintergrund aus der Benotung rauszuhalten. Am liebsten entscheidet für manche nicht die persönliche Performance sondern die zugeordnete Bestimmung, wie im gleichnamigen Film, zumindest haben wir alle vier Geschwister die selbe Misere erlebt. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Schade nur, dass dieser Weg für manche so schwer und ermüdend ist!

Ich bin mächtig stolz auf dich Fatma! Nicht nur, weil du der erste Mensch überhaupt in der gesamten Familiengeschichte meiner Eltern bist, die diesen akademischen Grad erreicht hat, sondern weil es mit kleinem Kind, ohne finanzielle Unterstützung, mit Betreuungswechsel aufgrund unüberwindbarer Differenzen, trotz so vieler Gründe, die dagegen gesprochen haben, es trotzdem geschafft hast! Aus allen Steinen, die dir in den Weg gelegt wurden, hast du eine Brücke gebaut, aus allen Gruben, die dir gestellt wurden bist du raus geklettert, hast diese zugeschüttet, damit kein anderer nach dir reinfällt. Du bist DAS Best-Practise Beispiel überhaupt.

Ich sonne mich gerne in deiner Weisheit, Disziplin, deinem anti-kapitalistischen Frugalismus. Was doch aus diesem kleinen Baby in der Trage geworden ist. Du bist das lebendige Beispiel, dass am Ende alles gut wird, mit dem Glauben, der Berge versetzt. Ich feiere dich!

*Genauer Titel der Promotion wird nach der Ausstellung der Urkunde hier aufgeführt

Nach 9 Monaten- Potsdam/Berlin

Volle neun Monate sind bereits vergangen seit wir von Frankfurt am Main nach Potsdam gezogen sind. Zwischen der zweiten und dritten Welle, mitten im Herbst, haben wir quasi in nur wenigen Wochen uns entschieden, alles organisiert und im Sturm sind wir hier eingezogen. Es bedarf wahrlich einer längeren Zeit, um an einem Ort anzukommen als nur die Möbel und Habseligkeiten von einer Wohnung in eine andere zu schaffen. Klar, während einer Pandemie, lang andauernden Isolationen und nicht gewohnten Lebensumständen ist das alles nichts verwerfliches oder gar verwunderliches. Aber dennoch. Erst jetzt fühlt es sich allmählich gut an. Es ist nicht wirklich schon „zu Hause“, dafür ist es einfach noch zu groß und immer noch zu isoliert. Aber, ich möchte nicht undankbar sein und allmählich tut sich was…

Ich arbeite in Berlin, nur zwei-Gehminuten vom Brandenburger Tor entfernt. Ich habe zum ersten mal in meinem Leben am Arbeitsplatz meinen eigenen Schreibtisch. Ich muss sagen mir fiel sofort Virginia Wolf ein, ich habe zwar schon seit Jahren ein Arbeitszimmer zu Hause. Aber irgendwie hatte es seit Jahren im Job nie für einen eigenen Tisch gereicht. Ich hatte zwar kein Problem den Arbeitsplatz zu teilen, aber so einen Tisch für sich zu haben, vom Fenster aus die Oper-Proben zu hören, am Brandenburger Tor einen Kaffee zu trinken hat schon extrem viel Charme… Mein neues Team ist mindestens genauso nett und entgegenkommend wie mein altes. Ich muss sagen, es lässt sich hier sicherlich gut aushalten 🙂 ich arbeite wahnsinnig gerne…

Was aber fehlt sind sicherlich die Freunde und vor allem die alten Nachbarn. Man merkt nach dem Umzug wie tief man bereits verbunden war mit Menschen, wie sehr sie schon Teil von einer Person wurden. Ich habe mir noch sehr lange Sorgen um die Nachbarin gemacht, für die wir während der Pandemie einkaufen gingen, für die Nachbarin, der mein Mann beim Tragen von schweren Blumentöpfen half, dem Nachbarpaar die das beste Beispiel für uns sind, wie man gemeinsam alt werden kann und viele mehr…. Alle sind uns so ans Herz gewachsen…. Alle meine Freundinnen, die für verrückte Sachen, für tiefe und bewegende Diskussionen da waren, mit denen ich soziologische Erkenntnisse teilen konnte. Freunde, die schon seit Jahren Familie geworden sind…. Soviel Heimweh hatte ich schon seit Jahren nicht mehr- Heimweh, was bei mir ja quasi schon obligatorisch/chronisch ist und die Verortung von Heimat so extrem different und hybrid ist… Sehnsucht nach etwas- aber was?

Jetzt haben wir alle pro Person soviel Platz, soviel Wald und See, soviel Natur wie noch nie. Jetzt haben wir neue, spannende Nachbarn. Vor allem einen Nachbarn, der ungemein belesen und wunderbar warmherzig ist 🙂 (er liest ab und an meinen Blog- ansonsten würde ich hier noch Ausführungen anbringen, aber er weiß es sicherlich schon, dass wir von ihm angetan sind 🙂 Es ist definitiv ein Neuanfang, ein neues Kapitel für uns alle.

Ich freue mich wenn ich bei Spaziergängen die wunderschönen farblichen Ausführungen wie zig-verschiedene Blau-, Rosa-, Lila-, Rot- Töne oder die schönen Regenbogen….. Allah sei Dank habe ich bisher noch keine negativen Erfahrungen machen müssen im Sinne von Rassismus, Dämlichkeit oder Unfreundlichkeit. Wir stellen die Exotenquote in der Straße so ziemlich über den Kopf, da wir die offensichtlich einzigen nicht-christlichen und nicht-Biodeutschen im Viertel sind. Aber fünf Minuten später fängt ja schon Berlin an und da ist es wohl genau umgekehrt.

Nach nun neun Monaten, einem neuen Job (Stiftung Dialog und Bildung), zwei Corona-Impfungen möchte ich mutig sein und mich auf das Neue, Gute und Spannende einlassen…. Hallo Potsdam, Hallo Berlin, wir sind da! Ganz wie Mevlana Celaleddin Rumi sagen würde „Jetzt ist es Zeit, neues zu sagen!“….

Und dann kamst du…

Heute vor genau 12 Jahren wusste ich um diese Uhrzeit noch nicht, was mir in den kommenden zwölf Stunden bevorstand und, dass ich noch vor Mitternacht eine Mama werden sollte. Ich lag bereits seit knapp einer Woche im Krankenhaus, nachdem uns ein Auto die Vorfahrt genommen hatte und ich aufgrund eines Blasensprungs und vorzeitigen Wehen direkt vom Unfallort ins Krankenhaus gefahren wurde. Nach unzähligen Tests, Unmengen Antibiotika und Kortison- für eine schnellere Lungenreifung-entschied der Chefarzt aufgrund meiner ansteigenden Körpertemperatur, mittags, in der 34 Schwangerschaftswoche, die Geburt mittels eines Wehenmittels einzuleiten. Meine Hormone spielten schon seit dem Unfall Ballerspiele in meinem Körper, vor allem weil ich bereits vor dieser Schwangerschaft eine unerwartete Fehlgeburt hinter mir hatte, und ich das Gefühl hatte, dass wir nun ein deja-vu erleben, nur noch extremer. Ich wurde über Risiken und Chancen aufgeklärt und, seien wir mal ehrlich, ohne eigentlich realistische Wahlmöglichkeit mit dem Tropf zusammengebracht. Da ich schon seit Kindesalter allergisch gegen Paracetamol bin (nicht nur Ausschlag, sondern gleich volles Programm, mit Schock und Co.) dockte das Mittel sofort an. Der Unterschied zu einer „natürlichen Geburt“ und einer eingeleiteten ist meiner Erfahrung nach, dass im zweiten Fall weder Körper noch Geist auf das, was folgt eingestellt sind. Es geht von jetzt auf sofort los! Und das mit Tempo 200! Während ich mit dem schicken Rollstuhl in den Kreissaal gefahren wurde, sagte ich zur Krankenschwester, dass ich noch nicht bereit bin. Ich hatte erst zweimal beim Vorbereitungskurs mitgemacht. Am Abend des Unfalls hätten wir an einer Krankenhausführung und Infoveranstaltung teilgenommen und alles kam innerhalb weniger Sekunden anders! Die Schwester lächelte und fuhr mich auf der Station von Zimmer zu Zimmer und sagte „ich mache für Sie eine Sonderführung“. Ich wusste, dass das auf die kommenden Stunden keinerlei Einfluss haben wird aber ich fühlte mich als Mensch in Not verstanden.

Es folgten die intensivsten 12 Stunden meines Lebens. Nein- unseres Lebens! Mein Mann, mein Kind und ich! Ich will allen Schwangeren, zukünftig Gebärenden, im Kreissaal bangenden und tief, wirklich extrem tieeeef atmenden Menschen nichts vorwegnehmen aber- da kommt noch was auf euch zu! Nicht negativ! Keineswegs! Aber derart intensiv und so voller Leben, dass kein ähnlicher Vergleich auf Anhieb passen würde! Man verliert jegliches Raum- und Zeitverständnis. Ein Minutenschlaf zwischen zwei Wehen fühlt sich wie eine kleine Ewigkeit an und Presswehen kann ich heute immer noch nicht wirklich verbal adäquat beschreiben… Aber das ist absolut ok, ja sogar perfekt, denn ich glaube, dass eine Geburt so unbeschreiblich persönlich und definitiv individuell ist. Nach 12 Stunden Dauerwehen, zwei Schichtwechseln, keinem Geschrei und Null Drogen, kamst du….

In dem Moment ertönte für uns dieses Lied: Than I saw her face, now I’m a believer…. von den Monkeys… ja wir sind seit dem Tag „Believer“…. Seit 12 Jahren und forever….. Ich weiß, dass du dich so sehr freust, dass du jetzt nicht mehr die Kinderzahnpasta benutzen musst, dass du jetzt andere Filme schauen darfst und dass du offiziell schon Jugendliche genannt werden darfst und obwohl es mich manchmal traurig stimmt, dass das alles viel zu schnell geht, gönne ich dir diese Freude auf das Großwerden… ich weiß, dass es manchmal shitty ist, eine Mama zu haben, die alles vorher weiß, eine extreme Spaßbremse ist, zu jedem Vorfall sofort einen Vortrag halten muss, einen kleinen- ok, nur weil du Geburtstag hast, einen ziemlich großen Hang zum Perfektionismus hat… Wenn ich dich nachts zudecke sehe ich mein kleines Baby… Beim Frühstück finde ich meine Geschmacksgenossin genüsslich ihr Avocado Brot essend vor…. Nach der Schule sehe ich eine kleine Kämpferin, die es sich nicht anmerken lässt, dass sie Systemkritikerin und Weltverbesserin ist und hinter der coolen Fassade eigentlich extrem feinfühlig und zerbrechlich ist… Im Chaos deines Zimmers sehe ich das rebellierende Pubertier, von dessen Energie ich bewältigt und begeistert bin und es mir aus mütterlichen Verpflichtungen nicht anmerken lassen darf… Bei der Buchfanatikerin sehe ich eine fruchtende Anlage, die ich während Shopping Touren und Buchmessebesuchen fleißig angelegt habe…. In deiner wunderschönen Handschrift und deinen meisterhaften Bildern sehe ich deine große Gabe für Kunst und Ästhetik… In deinen Tränen bei traurigen Szenen in Filmen sehe ich dein Wackelpudding-Herz, für das du dich niemals schämen musst sondern ganz ganz viel darauf achten musst… In deinen warmen braunen Augen sehe ich deine atemberaubende Schönheit und in deinem Lächeln eine faszinierende Zukunft….

Und dann kamst du… Vor zwölf Jahren, kurz vor Mitternacht, konnte ich als Frau nicht glücklicher, nicht stolzer sein können…. Seit diesem Tag und bis in alle Ewigkeit bin ich deine Mama… ich liebe dich und werde es weit über dieses Leben hinaus immer tun, denn Liebe ist die stärkste Kraft im Universum, die weit über den Herzmuskel hinaus, in ein unendliches Leben reicht…. Happy Birthday Azra Rana…

Corona ABC…

A Apokalypse, Asylpolitik

B Berufsgruppen-systemrelevante

C Corona, Covid-19

D Desinfektionsmittel, Distanz

E Epidemie, Ersticken, Entschleunigung

F Fieber, Frust, Faulheit

G Gesundheitssystem

H Home-Dings-Da, Hamsterkauf, Händewaschen, Hygiene

I Isolation, Internet

J Jobverlust, Jammer

K Klopapier, Kollateralschaden

L Lungenversagen

M Mehl, Menschenrechte, Massensterben

N Netflix, Nudeln

O Organversagen, 02

P Pandemie, Pressekonferenz zum Covid-19

Q Quarantäne

R Risikogruppe, Robert-Koch-Institut

S #socialdistancing #stayathome #streaming

T Tod

U Umweltentlastung

V Virus, virtuell

W Wirtschaftskrise

X xenophob

Y Y-Chromosom

Z Zuhause bleiben, Zahl der Toten, Zone

Rassisten essen heimlich Döner

Man meint immer, vieles Böse und Üble gibt es heute nicht mehr in dem Maße wie „früher“. Denn warum auch? Heute spricht man von Zivilisation, Globalisierung, Liberalisierung und Menschenrechten. Wenn man jedoch genauer hinschaut, dann könnte man an manchen Tagen genau die gegenteilige Hypothese vertreten. Leider sind manche längst überwunden gedachte Makel, beendet gehoffte Ideologien und Buße gezeigte Sünden mitten unter uns! Wir tun uns schwer es beimNamen zu benennen: Rassismus- Diskriminierung- gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit… Immer lauter scheinen sich die Anhänger zu artikulieren, sich des öffentlichen Raums zu bemächtigen. Auch wenn die Betroffenen und Gegner dieser rassistischen „Landeinnahme“ solidarisch und den heutigen Formaten bedienend (Internet, Networking, Aktivistisch) dagegen stellen, macht es doch etwas mit einem. Generell scheint der Hasspegel ähnlich wie das Wasser an den Polen zu steigen. Eventuell hat der globale Klimawandel selbst darauf einen Einfluss.

Jede Auseinandersetzung, jedes Aufeinandertreffen dieser Art hinterlässt Spuren. Sicherlich können die meisten Betroffenen sich verbal perfekt verteidigen und lassen weder ihre Zugehörigkeit noch ihre Identitäten von derartigen rechtswidrigen Handlungen absprechen oder abhängig machen. Aber dennoch ist man nach einem verbalen Angriff in der Bahn, im öffentlichen Raum, im ersten Moment extrem erschöpft, innerlich aufgebracht, wütend, verletzt und ungemein traurig. Es wird in erster Linie die persönliche Existenz in ihrer Form verweigert und abgesprochen. Man ist hier nicht erwünscht. In den allerseltensten Fällen schreitet nämlich dann auch einer der Gaffer, solche sind sie dann nämlich- sofern sie solch eine Tat negieren, aber nicht die Courage aufzeigen einzuschreiten oder zu unterstützen, ein. Falls der/die Nazi (gibt es eigentlich die weibliche Form?) vorzeitig den öffentlichen Raum verlässt, dann outen sich Gaffer und sprechen sich solidarisch. Um es verständlich zu formulieren: diese Solidarität ähnelt dem Nachgereichten Klopapier, welches kommt, nachdem man die Toilette, in der sich keines befand, verlassen hat! Nett gemeint aber leider viel zu spät. Das deutsche Sprichwort „besser spät als nie“ ist meines Erachtens, hier nicht anwendbar!

Sicherlich macht die gesamte Begegnung auch was mit den Nazis, wenn sie den öffentlichen Raum verlassen, nachdem sie ihre menschenverachtende und rassistische Kotze losgeworden sind, am besten an der Frau mit Migrationshintergrund und Kopftuch, an der das Anderssein am offensichtlichsten ist. Insbesondere macht es was mit ihnen, wenn sie keinen Erfolg hatten, weil zum Beispiel die Frau ambivalent genug war, nach Zygmunt Bauman, so gar nicht deutsch aussah, aber in der dritten Generation schon hier zu Hause ist, den deutschen Pass hat, extrem feministisch unterwegs ist, und kein Blatt vor dem Mund hat und ultra allergisch gegen Ungerechtigkeit ist. Tja dann hat sich der/die Nazi sich im öffentlichen Raum die Zähne an ihr ausgeschlagen, ist total angepisst, steigt aus der Bahn aus und isst erst mal einen Döner….

Du warst wahrscheinlich leider nicht die letzte rassistische Begegnung. Aber ich bin keine Kolonie, die man vereinnahmt, keine Frau, die man mundtot kriegt und kein Mensch, der wegsieht! Heute bin ich vielleicht ermüdet aus der Bahn ausgestiegen, aber bin zumindest Mensch geblieben, was du leider nicht geschafft hast…

WELTFRAUENTAG- VON FEIERN KANN NICHT DIE REDE SEIN

Heute wird weltweit der Frauentag mehr oder minder gefeiert. Es werden Nelken, Rosen und andere Blumen verteilt. In Berlin bleiben gleich alle zu Hause- es wurde ein Feiertag für die Andacht eingeführt. Vielerorts wird protestiert. Frauen und Unterstützer demonstrieren und wollen aufmerksam machen auf die weltweit facettenreiche Ungleich-Behandlung, sexualisierte Gewalt, Diskriminierung und vieles mehr…. Spätestens am Montag haben sich alle wieder beruhigt, Normalität kehrt ein und die Probleme bleiben die gleichen….

Wir haben vor kurzem noch das 100 jährige Frauenwahlrecht in Deutschland gefeiert. Sicherlich kann man im internationalen Vergleich froh sein, in Deutschland als Frau zu leben und nicht in Ländern, in denen von Selbstbestimmung nicht die Rede sein kann. Vielmehr stellt das weibliche Geschlecht eine erhöhte Gefahr für Genitalverstümmelung, Vergewaltigung und Gewalt dar. Auch zählen weltweit mehr Frauen und Mädchen zu Analphabeten als Männer und Jungen. Bildung wird aufgrund des Geschlechts verweigert. Die Wahl des eigenen Ehepartners ist in patriarchalen Strukturen ein Ding der Unmöglichkeit.

Clara Zetkin forderte 1910  auf dem Zweiten Kongress der Sozialistischen Internationale in Kopenhagen auf, dass Frauenrechte keine Sonderrechte, sondern Menschenrechte seien und stieß damit den internationalen Frauentag an. Umso mehr verwundert die fanatisch-idiotische Sturheit, dass Frauen sich gerne die Diskriminierung einreden würden oder gar das Bestreben hätten die gesamte Herrschaft an sich zu reißen und Männer hassen.  Für eine derartigen Haltung ist leider jeglicher Versuch der Diskussion vergeudete Energie- es bleibt nur die Hoffnung, dass diese Ideologie ausstirbt!

Mehr Widerspruch ist kaum mehr möglich!

Anfang dieser Woche wurden im Forbes Magazin die Erfolgreichsten der Erfolgreichen gekürt. Ganz vorne mit dabei die 21 jährige „Selfmade Milliardärin“ Kylie Jenner. Mit ihrem Make-up Imperium hat die junge Frau binnen kürzester Zeit ein Vermögen von 1 Milliarde US Dollar erwirtschaftet. Auf der anderen Seite protestieren gerade heute viele Frauen für ein sicheres und humanes Leben, ein Recht auf Bildung und für Sicherheit im Alter, um nicht mit Armut kämpfen zu müssen. An vielen Stellen der Welt ist ein prekäres Leben leider unumgänglich! Selbst wenn im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) als Resolution verkündet wurde festgelegt wurde, dass alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren werden, greift dieses Menschenrecht immer seltener gerade bei Frauen.

Terre des Femmes hält fest, dass Menschenrechtsverletzungen an Frauen  unter anderem:

  • Handel mit Frauen auf der ganzen Welt als billige Arbeitskräfte, Katalogbräute und Zwangsprostituierte,
  • Nichtanerkennung der Verfolgung von Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit als Asylgrund,
  • Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen über ihren Körper,
  • z.B. Zwangssterilisationen und genitale Verstümmelung,
  • sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen,
  • Abtreibung von weiblichen Föten,
  • Zerstückelung und Vermarktung des weiblichen Körpers durch Gen- und Reproduktionstechniken.

umfassen.

Frauen, die aus benannten Gründen es schaffen zu fliehen, begegnen heute oftmals einer zweiten Entzauberung. Sie erfahren in den neuen Zufluchtsorten Intersektionalität,  d.h. Diskriminierung, die in mehrfacher Ebene greift.  Zu diesen Dilemmas kann man Stigmatisierung, Rassismus, Islamophobie u. ä. aufzählen. Ebenso unterbindet die Absprache von Emanzipation durch weiße Feministinnen jegliche Möglichkeit eines Neustarts in der Wahlheimat.

Umso mehr erscheint es gerade heute ungemein unrealistisch und falsch in Feierlaune von einem Feiertag zu sprechen und überall symbolisch Blumen zu verteilen. Wir haben zwar heute den Weltfrauentag im Jahre 2019- aber von feiern kann nicht die Rede sein!